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Guatemala
Heftige Schneefälle in Mittelamerika

Junge mit Schneeball in Guatemala-Stadt

Im Jahr 2013 war auf dem Weihnachtsmarkt in Guatemala-Stadt die mit Abstand beliebteste Attraktion eine Schneekanone. Das Modell X2600 wurde eigens aus Kanada beschafft. Die Schneekanone war in der Lage, riesige Eisblöcke in eine Schneefontäne zu verwandeln. Für die meisten Guatemalteken war dies die erste Berührung mit Schnee überhaupt. Nachdem ich davon in der Zeitung erfuhr, stiefelte ich auf diesen Weihnachtsmarkt, musste ich doch herausfinden, wie eine Schneekanone in Mittelamerika ankommt.  

Ort der Fotoaufnahmen: Guatemala City
Koordinaten: N14° 38' 31.02" W90° 30' 51.408"

Wenn ich im Ausland in einer neuen Stadt eintreffe, dann kaufe ich mir gern eine lokale Tageszeitung. Hier kann man sich mit den Kandidaten für die Bürgermeisterwahl, historischen Ernteerfolgen und futuristischen Bauprojekten vertraut machen. Daneben gibt es meistens Tipps für Veranstaltungen, die nicht in den Reiseführern stehen und es gibt manchmal Kleinanzeigen, anhand derer man in Erfahrung bringen kann, woran es bei den kleinen Leuten mangelt, welche Berufe gerade gefragt sind und wie es um den lokalen Gebrauchtwagen- oder Heiratsmarkt bestellt ist.

In Guatemala jedoch kaufte ich mir am liebsten die "Nuestro Diario", ein exzellentes Boulevardblatt, dessen Markenzeichen die ausgewerteten Polizeiberichte auf den ersten vier Seiten sind. Hier werden jeden Tag die Verbrechen der Vortage en détail vorgestellt. Neben den Tatortfotos und den obligatorischen Fotos der Leichensäcke findet man auch Piktogramme, mit denen der Leser für jede Bluttat schnell erfassen kann, wieviel Tote und Verletzte es zu beklagen gibt. Ein ungewöhnlicher, wenngleich offenbar sehr beliebter, Service in Guatemala.

Es war an einem Tag im Dezember 2013, als ich wieder einmal diese Zeitung in den Händen hielt. Gleich nach der Verbrechenslektüre fand ich einen Artikel, der mit einem schneebedeckten Tannenbaum auf einem Platz in Guatemala-Stadt bebildert war. Im Hintergrund des Fotos erkannte ich Buden mit Pfefferkuchen und einen Weihnachtsmann. Der Artikel berichtete vom hiesigen Weihnachtsmarkt und lockte mit einigen - für 25 Grad Außentemperatur gewagten - Versprechungen. So hatten die Organisatoren eine Eisbahn zum Schlittschuhlaufen eingerichtet und das erste Mal in der Geschichte des Weihnachtsmarktes überhaupt ein "Schneespielfeld" geschaffen, auf dem man unter polizeilicher Aufsicht Schneebälle werfen durfte. Für die Produktion des Schnees hatten nach Auskunft der Zeitung die Veranstalter eine Schneekanone aus Kanada beschafft. Ich war entzückt! Ein heimatlich weihnachtliches Gefühl kam auf.

Am nächsten Tag fuhr ich zum Plaza Constitucion in Guatemala-Stadt. Nachdem ich die Warteschlage hinter mir gelassen hatte, staunte ich nicht schlecht, denn der Markt war bis auf die vielen Palmen einem deutschen Weihnachtsmarkt zum Verwechseln ähnlich. Ich genehmigte mir eine Art Lebkuchen, während ich den Guatemalteken zuschaute, als sie sich reihenweise zusammen mit einem Weihnachtsmann vor schneebedeckten Tannenbäumen fotografieren ließen.

Ich inspizierte das Eisstadion, das aus einer etwa 30 m x 30 m großen Eisfläche bestand, die von einer Zuschauertribüne flankiert wurde. Circa 150 Besucher konnten sich hier Schlittschuhe und Schutzhelme ausleihen, um dann für circa eine halbe Stunde ihre Kreise zu ziehen. Dabei hangelten sich die meisten Guatemalteken an der Bande entlang, während sich nur ein paar Mutige in die Mitte wagten und sich ohne die Möglichkeit zum Abstützen vorwärtsschoben. Sobald dann doch jemand in Charlie-Chaplin-Manier auf der Eisfläche taumelte oder gar stürzte, waren die Zuschauer auf der Tribüne aus dem Häuschen. Für selbige stand eindeutig das Entertainment im Vordergrund, das hier mit den garantierten Slapstick-Einlagen einherging. Wer mehrmals stürzte wurde von der "Policia Muncipal", die mit drei bekuvten Beamten auf der Eisfläche präsent waren, ermahnt und im Wiederholungsfalle an die Bande oder ganz von der Eisfläche verwiesen. Nach jeder Runde schoben Mitarbeiter eine circa 1 cm hohe Wasserschicht beiseite oder drehten mit einer Eisbearbeitungsmaschine ein paar Runden.

Auf der anderen Seite des Platzes fand ich dann das sogenannte „Schneespielfeld“, das von Groß und Klein und Jung und Alt gestürmt wurde, wobei die Guatemalteken zunächst vorsichtig ihre Hände auf die Schneefläche legten und fasziniert darüber strichen. Augenblicke später schoben sie dann instinktiv eine Hand voll Schnee zusammen und formten Kugeln, die sie gegenseitig begutachteten, bevor sie voneinander Reißaus nahmen und aufeinander losgingen. Eine Schneeballschlacht - alle gegen alle - wie sie überall auf der Welt stattfinden würde.

Fortgeschrittenere Teilnehmer hatten sich Handschuhe mitgebracht und entwickelten die Angriffe schnell weiter. Sie attackierten die Gegner in kleinen Gruppen, vorzugsweise von allen Seiten und mit mehreren vorgeformten Schneebällen. Der Spaß dauerte dann meistens zehn bis 15 Minuten bis die Fläche wieder geräumt und neu präpariert wurde. In dieser Zeit stieg der Mitarbeiter an der Schneekanone, der die Fläche wieder mit Schnee auffüllte, zu einem Popstar empor. Die Guatemalteken rissen ihre Arme in die Höhe und forderten ihn auf, seine Kanone auf sie zu richten, auf dass der Schnee auf sie herabregnen würde. Manche hatte Freudentränen in den Augen. Ein verrückter Anblick für jemanden wie mich, der sich schon so häufig durch die Wintermonate in Europa gequält hatte. Ich kann schwer sagen, wer hier faszinierter war: Die Guatemalteken über den Schnee oder ich über die Freude der Guatemalteken. Jedenfalls hatte ich selten so viele Eltern, Großeltern und Ur-Großeltern gesehen, die nochmal so sehr Kind waren.

Am Abend blätterte ich dann nochmal in der „Nuestro Diario“. Ein seltsames Gefühl kam auf: Das Leben und der Tod sind in manchen Gegenden der Welt viel intensiver und näher beisammen: Die eine Seite der Zeitung erzählt von der Hinrichtung eines Busfahrers, während auf der Rückseite zu einem die Herzen ergreifendem Schneeregen auf einem Weihnachtsmarkt eingeladen wird.