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Polen
Manchmal hilft nur ein Schlammbad

Polen Kostrzyn Haltestelle Woodstock Festival Pärchen knutscht im Schlamm

Jedes Jahr im Juli oder August ist es an der Zeit, ein paar Kästen Bier und ein paar Kilo Wiener Würstchen einzupacken, seine Freunde einzuladen und sich auf den Weg nach Kostrzyn nad Odra zu machen. Auf dem polnischen „Woodstock“-Festival trifft man dann auf hunderttausende Campingfreunde und Liebhaber des Hardrocks. Für viele sind die Tage beim Festival die Zeit des Jahres, in denen sie tun und lassen können, was sie wollen. Hier wird die Nacht zum Tag und der Tag zur Nacht. Wer von Love, Sex, Drugs und Rock’n’Roll nicht mehr laufen kann, dem sei das große Schlammbad neben der Hauptbühne ans Herz gelegt, in dem man wunderbar abtauchen kann.

Ort der Fotoaufnahmen: Kostryzn nad Odra, Poland
Koordinaten:
52°36'40.5"N 14°40'05.5"E
Dank an: Nils Hasenau

Es war eine recht spontane Aktion an einem Freitag Morgen im August 2013 und begann mit einem Anruf bei meinem Freund und Fotografen-Kollegen Nils Hasenau. Ich erzählte ihm, dass ich schon einmal vor Jahren auf dem Woodstock-Festival gewesen war und dass wir dort sicher ein paar schöne Fotos machen könnten. Das Festival kostet keinen Eintritt und liegt nur 90 Autominuten von Berlin entfernt. Gesagt, getan. Und so saßen wir wenig später mit unseren Fotoausrüstungen und einer Eisbox gefüllt mit Sprudelkaltgetränken im Auto auf dem Weg zur deutsch-polnischen Grenze.

Als wir auf dem Festivalgelände eintrafen, war uns sofort klar, dass wir in der Tat auf eine fotografische Goldmine gestoßen waren. Das Festival-Volk war bestens gelaunt und meistens offen für jedwede Kameraobjekte. Und so schritten wir vergnügt über das Festival, wobei wir uns vorkamen wie auf einer Großwild-Safari.

Wir beobachteten die Ansammlung tausender Exemplare einer kunterbunten Spezies. Die Spezies war auf eine Art chaotisch unterwegs, aber dennoch konnten wir Grundformen eine Organisationsstruktur ausmachen. Die meisten Exemplare waren bei Bewusstsein, andere Vertreter dieser Gattung befanden sich im Tiefschlaf, wobei die eingenommenen Schlafstellungen mitunter recht putzig aussahen. Auf jeden Fall schlossen wir daraus, dass es sich hierbei um tag- und nachtaktive Lebewesen handeln musste. Die meisten der tagaktiven Vertreter wiederum standen andächtig vor einer Bühne. Vereinzelt vollführten sie Bewegungsabläufe, die unter Zoologen als „Abspacken“ bezeichnet werden.

Darüber hinaus war die gesamte Bandbreite der Bewegungsabläufe erstaunlich groß. Allein in der Kategorie der „zielgerichteten Fortbewegung“ konnten wir mehrere Varianten ausmachen: Kriechen und Krabbeln auf bis zu vier Extremitäten war genauso verbreitet wie der aufrechte Gang, wobei ein Großteil der Aufrechtgeher noch nicht vollständig entwickelt war. Bei diesen Exemplaren waren häufig ein Wanken, Trudeln und Stürzen dem Bewegungsablauf immanent. Außerdem konnten wir hier deutliche Defizite bei den kognitiven Fähigkeiten verzeichnen.

Deutlich auffallend war bei dieser Gattung auch ein besonderer Drang nach Wasser, das an den Futterstellen reichlich vorhanden war, aber auch in Form von Wasserfontänen und Planschbecken dargereicht wurde. Bei letzteren stand häufig nicht die Nahrungsaufnahme, sondern das eigene Amüsement der Spezies im Umgang mit dem Element Wasser im Vordergrund.

Eine Variation dieses Bedürfnisses hatten wir dann später in der Nähe der Hauptbühne entdeckt: Grundlage war hier ein Gemisch aus abgestandenem Wasser und Erdreich, in dem sich die Festival-Jünger suhlten, aber mitunter auch komplexe, akrobatische Höchstleistungen aufführten. Die Spezies führte in diesem Schlammfeld auch Wettkämpfe und Leibesübungen mit militärischen Antlitz durch oder genoss gegenseitige Berührungen im Intensitätsbereich von Liebkosungen. Vor allem diese, durch den Schlamm geförderte Ambivalenz zwischen Militanz und Zärtlichkeit, beeindruckte uns sehr.

Eigentlich hatten wir in Erwägung gezogen, bis weit in die Nacht hinein zu bleiben, aber als dann der Sonne die Puste ausging, ging auch uns die Puste aus.

Dass in einem solchen Festival-Umfeld die Dankbarkeit für viele Fotos nicht groß genug sein kann, versteht sich von selbst und deswegen verbinde ich mit der Veröffentlichung einer Auswahl selbiger auch die Hoffnung und den Appell an die UNO zum Schutz und der Bewahrung dieser Spezies, haben sie doch an diesem Ort ein evolutionäres Stadium der wahrhaft gelebten Lebensfreude erreicht.